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 Empört euch!

Stéphane Hessel: Empört euch! Aus dem Französischen von Michael Kogon. Berlin 2011 (Ullstein).

Das Büchlein von Hessel konnte in Frankreich große Popularität gewinnen, weil es auf eine Grundstimmung gegen den neoliberalen Kahlschlag der sozialen Absicherung traf und weil Hessel eine moralische  Autorität verkörpert. Er war mit seinen Eltern aus dem faschistischen Deutschland nach Frankreich emigriert, war Mitglied der Résistance und überlebte das KZ-Buchenwald. Nach 1945 war er als französischer Diplomat an der Durchsetzung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ in der Generalversammlung der Vereinigten Nationen beteiligt und setzte in Frankreich mit der damaligen Führung um Mendès-France die Ideen der Résistance von einer sozialen Absicherung der ärmeren Bevölkerung durch. Diese Absicherung sieht er, inzwischen 93 Jahre alt, in Gefahr und richtet an seine Landsleute den moralischen Appell: „Empört euch!“

Zunächst Grundsätzliches zur Aufforderung „Empört euch“: Die Forderung „Empört euch“ setzt Empörung positiv, die nicht positiv ist. Empörung, gar sittliche Empörung, ist ein Affekt, der nicht auf etwas gerichtet ist, sondern nur sich von etwas affektiv distanziert. Da Empörung nicht ohne Zweck ist, dieser Zweck aber im Dunkeln bleibt, kann mit sittlicher Empörung jedes Falsche bis hin zur Schlächterei an Menschen legitimiert werden. So hat Hitler mit propagandistisch erzeugter sittlicher Empörung das Sudentenland ohne einen Schuss erobert und später mit Gräuelpropaganda die Deutschen bereit gemacht, den Überfall auf Polen zuzustimmen. Scharping und Konsorten haben die sittliche Empörung über die Schlächterei im ehemaligen Jugoslawien, die sie selbst mit zu verantworten hatten, dazu benutzt, um sich an dieser Schlächterei entsprechend ihren imperialistischen Interessen (teile und herrsche) zu beteiligen. Bei Hessel ist der implizite Zweck der Empörung, das Wirtschaftssystem, dessen Erscheinungen Empörung auslösen, zu reformieren und dadurch die Gründe der Empörung zu perpetuieren. Empörung ist ein Affekt, der blind macht, bestenfalls als erste Reaktion akzeptabel, wenn er nicht das Denken ersetzt. Bleibt die Empörung als Affekt bestehen, wird sie nicht zur Erkenntnis sublimiert, dann macht sie den Empörten zum blinden Objekt derer, die empören. Es gelingt zwar mittels geschickter Propaganda, Gefühle zu provozieren, aber niemand kann von außen über Gefühle gebieten, Gefühle bestimmen zu wollen, ist antiaufklärerisch. Die Individuen, die solcher Propaganda ausgesetzt sind, können sich den Gräuelbildern, die ihnen vorgesetzt werden, entziehen, indem sie den Mechanismus der Emotionalisierung durchschauen und ihrer analytischen Vernunft vertrauen.

Das kleine Pamphlet (mit Erläuterungen und einem Nachwort 30 Seiten) wird eingangs illustriert durch Paul Klees „Angelus Novus“ (1920), ein Aquarell, das Walter Benjamin in seinen berühmten Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ als Sinnbild für eine notwendige Revolution interpretiert, aber nicht in marxscher Bedeutung als Lokomotive der Weltgeschichte, sondern als deren Notbremse. Hessel schmückt sich mit diesem Sinnbild und verweist auch auf Benjamin, meint aber nicht Revolution im Sinne einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und deren politischer Form, sondern er will bloß Reformen, die Rückkehr zu mehr Sozialstaat (S. 8). All dies kommt fast ohne Analyse der Verhältnisse aus, denn der Hinweis auf die Absenkung von Leistungen der sozialen Sicherung ist noch keine Analyse, zu der immer auch die Gründe gehören. Bei Hessel sieht es so aus, als ob bloß der böse Wille der Machtelite, die „niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute“(S. 9), die Ursache dieser Verschlechterung sei – also braucht man auch nur die Betroffenen und die Liebhaber der Gerechtigkeit mit moralischen Appellen aufrufen, sich zu wehren.

„Das Grundmotiv der Résistance war die Empörung. Wir, die Veteranen der Widerstandsbewegungen und der Kampfgruppen des Freien Frankreichs, rufen die Jungen auf, das geistige und moralische Erbe der Résistance, ihre Ideale mit neuem Leben zu erfüllen und weiterzugeben. Mischt euch ein, empört euch!“ (S. 9)

Dass die Menschenrechte oder ein Teil von ihnen funktional auf das Wirtschaftssystem bezogen sind, kommt Hessel nicht in den Sinn. Für ihn gilt: Hier Moral, die „Grundwerte“ und die Menschenrechte – dort die bösen „Bonibanker und Gewinnmaximierer“ (S. 9). Eine bloß rechtliche Gleichheit heißt in der kapitalistischen Gesellschaft, dass sowohl der Clochard wie der Minister das Recht haben, unter den Seine-Brücken zu schlafen. Die bloß formelle Freiheit heißt in der kapitalistischen Gesellschaft, dass jeder im Rahmen der Gesetze tun und lassen kann, was er will. Der Banker kann nicht nur auf jedem schönen Stück der Erde seine Luxusvilla bauen und der kleine Lohnabhängige kann nicht nur einmal im Jahr in Biarritz Camping machen. Durch die bloß formale Bestimmung der Freiheit im Zusammenhang mit der Garantie des Eigentums vermehrt das Kapital nicht nur sich selbst arithmetisch, sondern sogar geometrisch, d. h., es potenziert sich durch Wiederanlage von Mehrwert, während der Lohn, wenn überhaupt, nur wächst, um durch neue von der Konsumindustrie künstlich erzeugte Bedürfnisse gleich wieder ausgegeben zu werden. Mit dem geometrischen Wachstum des Kapitals wächst auch seine politische Macht, es kann Politiker korrumpieren, Wahlen für genehme Kandidaten finanzieren und diese, wenn sie zu offensichtlich Sonderinteressen vertreten haben, Posten in der Industrie zuschanzen, es kann Lobbyisten installieren und Propagandakampagnen starten bis zur Monopolisierung des Mainstreams, also zur Gleichschaltung der Gehirne, um seine Interessen durchzusetzen. Wir haben also durch das ungeheure Wachstum des Kapitals in Verbindung mit der bloß formellen Universalität der Menschenrechte eine Tendenz, die aus einer Regierung als „ideellen Gesamtkapitalisten“ (Marx), der die Interessen der kapitalistischen Ökonomie als Ganzer vertritt, einen Ausschuss von Politikern macht, der zunehmend die Sonderinteressen der potenten, weltweit agierenden Großunternehmen durchsetzt, dem nichts an einem Wohlergehen ärmerer Schichten der Bevölkerung liegt (und sei es nur, um sie ruhig zu halten), der gegen sie hetzt, weil diese Überschussbevölkerung in der hoch technisierten Welt für das Großkapital noch nicht einmal gut ist, um als Reservearmee, die Arbeitslosen als potenzielle Lohnarbeiter in der Hochkonjunktur, zu dienen.

Dies ist auch der Grund für die Einschränkung des „Recht(es) auf soziale Sicherheit“, die Hessel beklagt, gegen die wir uns empören sollen – ohne uns gegen die Gründe dafür zu empören, weil sie bei Hessel nicht in den Blick geraten. Stattdessen gibt er formelhafte Appelle von sich. „Mein ganzes Leben lang haben sich mir immer wieder neue Gründe zur Empörung geboten.“ (S. 11) Zu diesem Satz habe ich mir beim ersten Lesen notiert: „Und nichts daraus gelernt?“

Die unermessliche Macht des Kapitals hat auch Folgen für die Sphäre der Politik, welche die Menschenrechte selbst tangieren. Stichworte wie Überwachungsstaat, Bespitzelung der Bevölkerung, Ausweitung der Rechte der Polizei, selbst Abbau und drastische Einschränkung der Menschenrechte bis hin zum Wiederaufleben der Folter, weisen auf diesen Zusammenhang hin.

Titelbild

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Die Universalität der Menschenrechte, auf die Hessel so pocht (S. 10), bewirkt in Verbindung mit der kapitalistischen Gesellschaft ihre tendenzielle Abschaffung. Das ist kein Grund, sich vonseiten der Linken gegen die Menschenrechte zu stellen. Das wäre so, als wollte man wegen des Mangels von Kenntnissen bei einem Arzt die Medizin abschaffen. Sondern man muss die Gesellschaft verändern, damit die dann erweiterten Menschenrechte allererst ihren humanen Zweck, der schon längst zur Ideologie der Zirkulationssphäre und Öffentlichkeit verkommen ist, erfüllen können.

Die theoretische Niveaulosigkeit von Hessel kommt nicht nur in klischeehaften Appellen wie: „Das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat die Welt in eine Krise gestürzt“ (S. 19) zum Ausdruck. Gegen den „Materialismus“ wettert der Paps regelmäßig, um Platz für seinen religiösen Aberglauben zu machen, der die gläubigen Schäfchen von der Empörung abhalten soll. Auch entscheidende Begriffe seines Aufrufs sind von den heutigen kapitalistischen Ideologien geprägt. Neben der unkritischen Verherrlichung der Menschenrechte wird die Totalitarismusthese benutzt, sodass man mittels oberflächlicher Phänomene den Faschismus mit dem Stalinismus gleichsetzen kann, um den demokratischen Kapitalismus an sich als besonders gut zu befinden, auch wenn man gegen einige Erscheinungen sich empören soll.

Und da wird von „Werten“, gar „Grundwerten“ (S. 20), geschwafelt, welche die Menschenrechte zu Idealen in einer Wertsphäre machen, denen man folgen kann, aber auch nicht folgen braucht, die also noch nicht einmal moralische Prinzipien sein sollen, hinter denen zumindest die Vernunft und das daraus folgende Gewissen steht, geschweige denn geltendes Recht sind, das man einklagen kann, wie es die Verfassung einiger Länder vorschreibt. Diese konservative Umdeutung der Menschenrechte zu „Werten“ ist geradezu eine Einladung an die Eliten, sie in ihrer konkreten Politik zu missachten. Hessel verlangt „mehr Gerechtigkeit und Freiheit“ für alle gleichermaßen und sieht nicht, dass diese zu „Werten“ herunter gebrachten Rechte zur Ideologie verkommen, mit denen man heute sogar Kriege begründen kann, ohne dass es einen Aufschrei der Empörung auslöst. Irgendwie hat er die Problematik der Menschenrechte doch gespürt, denn seinen hilflosen Appell nach mehr Freiheit muss er einschränken: „wenn auch nicht zur schrankenlosen Freiheit des Fuchses im Hühnerstall“ (S. 10). Für den kapitalistischen Fuchs im Hühnerstall der Lohnabhängen ist die Freiheit aber faktisch da.

Moralische Autorität war schon im autoritären Mittelalter nach Thomas von Aquin das schwächste aller Argumente. Man muss erst begreifen, was da läuft, dann kann man auch moralische Maßstäbe in die Debatte einbringen – sonst ist es bloßes Moralisieren, und das hat Nietzsche zurecht als unmoralisch bezeichnet.

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Letzte Aktualisierung: 19.06.2012

 

19.06.2012